Im Namen der Wahrheit!

Oder: Ist Leidenschaft für die Wahrheit gefährlich?

Von Kurt Igler 

Es gibt einen sehr einfachen, fast banal klingenden Satz, den ich trotzdem für äußerst wichtig halte, von dessen Wahrheit ich zutiefst überzeugt bin, und dessen Tragweite viel zu Wenigen bewusst ist. Der Satz war zugleich der Titel eines Buches von Richard Weaver aus dem Jahr 1948, geschrieben unter dem Eindruck der vorangegangenen politischen Katastrophen.

Der Satz lautet: „Ideas Have Consequences“, auf deutsch „Gedanken haben Folgen“. Welche Folgen hatten die Gedanken und Überzeugungen eines Lenin, eines Stalin, eines Hitler! Oder eines Marx, eines Nietzsche, eines Rosenberg!

Gedanken entfalten jedoch erst dann ihre stärkste Wirkung, wenn es sich um tiefste Überzeugungen handelt, wenn Menschen unbeirrbar an bestimmten Ideen festhalten, weil sie von deren Wahrheit absolut überzeugt sind. Weil Marx von der Wahrheit seiner Gedanken, vom Kommen einer neuen Welt mit einer neuen Menschheit, absolut überzeugt war, deshalb war er auch bereit, für das Herbeiführen dieser neuen Welt Opfer in Kauf zu nehmen – wohlgemerkt Menschenopfer! Der Marxismus hat im Namen dieser Wahrheit unzählige Menschen vernichtet, und ebenso der Nationalsozialismus im Namen seiner konkurrierenden Wahrheit...

Gedanken, Überzeugungen haben also unermessliche Folgen, besonders dann, wenn sie im Gewande und im Namen der Wahrheit daherkommen.

Ist die Wahrheit also gefährlich? Sind Menschen, die voll Leidenschaft für eine Wahrheit eintreten, gefährlich? Wäre es besser, das Reden von absoluten, verbindlichen, allgemeinen Wahrheiten und gar von einer alles umfassenden Wahrheit überhaupt aufzugeben? Wäre die Welt dann friedlicher?

Viele behaupten genau das. Es ist heute „in“, zu behaupten, alle Wahrheit sei relativ, subjektiv, nur persönlich, nicht allgemein verbindlich. Meine Wahrheit ist eine andere als deine, und niemand wage es, anderen seine Wahrheit aufzwingen zu wollen. Wer hat solche Dinge nicht schon oft gehört, vielleicht auch selbst gesagt. Und angesichts der furchtbaren Dinge, die im Namen großer, umfassender Wahrheiten geschehen sind, ist die Skepsis gegenüber absoluten Wahrheitsansprüchen und ihren Vertretern zu einem gewissen Grad verständlich.

Nur: Wenige denken die verheerenden Konsequenzen dieser relativistischen Sicht zu Ende. Wie gesagt: Gedanken haben Folgen – auch skeptische und zynische! Dazu ein persönliches, vor kurzem erlebtes Beispiel:

In einer Diskussion über Meinungsfreiheit sagte jemand zu mir sinngemäß: Niemand darf öffentlich Homosexualität als Sünde und falsch bezeichnen. Ich warf dann die Frage auf, ob es denn nach Meinung meines Gegenübers überhaupt absolut Wahres und Richtiges bzw. absolut Falsches und Böses gebe. Gibt es Maßstäbe für Wahr und Gut bzw. Falsch und Böse? Ist es z.B. immer falsch, unschuldige Kinder zu quälen?
Die Antwort: Nein, Wahr und Falsch, Gut und Böse sind nie absolut, nie für alle gültig, immer subjektiv, letztlich immer eine willkürliche Festlegung durch die Mehrheit der Bevölkerung.
Darauf meine Frage: War es dann falsch, die Juden umzubringen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung der Meinung war, es sei richtig? Nach einigem Herumdrucksen kam schließlich die Antwort: Ja, nur für uns heute ist es falsch, wenn damals die Mehrheit meinte, es sei richtig, dann war es auch richtig.

Ich war entsetzt. Vielleicht habe ich ein wenig überreagiert, aber ich war schlichtweg sprachlos. Hier hat jemand einmal konsequent ausgesprochen, was letztlich die Konsequenz unserer Wahrheitsskepsis und unseres totalen Relativismus und Subjektivismus sein muss. Gedanken haben Folgen! Freilich: nicht jeder Wahrheitsskeptiker geht so weit wie dieser Gesprächspartner. Aber die Lösung der Frage nach der Wahrheit kann nicht in der Preisgabe der Wahrheit bestehen! Sie kann auch nicht im Konstruieren von Wahrheiten bestehen, und im Versuch, die eigene, dem persönlichen Vorteil dienende Wahrheit allgemein durchzusetzen. In der Wertediskussion bekommt man heute den Eindruck, es gehe nicht um Wahrheit, sondern darum, wer am meisten Einfluss besitzt, um seine bevorzugten Werte allgemein durchzusetzen. Auch das ist ein Preis der Preisgabe der einen, für alle gültigen Wahrheit, dass man nicht mehr an eine allgemein einsichtige und unabhängige Wahrheitsinstanz appellieren, sich nicht mehr auf objektive Maßstäbe und Erkenntnisse berufen kann. Individualismus und Subjektivismus können sehr schnell zu Willkür und Manipulation führen.

Also: Missbrauch der Wahrheit darf nicht zur Preisgabe der Wahrheit führen. Es gibt einen besseren, den richtigen dritten Weg. Es ist der Weg der demütigen Beugung unter die Wahrheit, die Autorität über mich besitzt und der ich diene (wie schrecklich unmodern, wie altmodisch das doch klingt – und doch kommen wir nicht um diese Notwendigkeit herum). Die Wahrheit steht über uns, sie hat ihre Wirklichkeit und Kraft unabhängig von uns, und sie wird sich auch ohne uns durchsetzen. Deshalb sagt der Apostel Paulus an einer Stelle: „[W]ir vermögen nichts gegen die Wahrheit, sondern [nur] für die Wahrheit (2Kor 13,8). Und Albert Schweitzer ergänzt angesichts der Pervertierung der Wahrheit im großen Stil im 20. Jahrhundert: „Auf die Dauer vermag auch die frechste und bestorganisierte Propaganda nichts gegen die Wahrheit.“

Auf der Seite, ja unter der Wahrheit zu stehen, ist der sicherste, der bleibende Standpunkt. Die Wahrheit bleibt bestehen, wenn alle Lüge längst Geschichte geworden ist. Wer sich der Wahrheit beugt, der bleibt mit ihr. Denn im Tiefsten ist die Wahrheit unmittelbar mit Gott selbst verbunden. Und nur, wer sich unter Gott selbst beugt, wer seine Wahrheit und Wirklichkeit anerkennt, besteht in den Stürmen dieses Lebens und über den Tod hinaus. „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ – das sind unglaublich weitreichende Worte Jesu. Er ist die letzte Realität, er ist der Weg zu Gott, er ist das Leben selbst. An seiner Wirklichkeit führt kein Weg vorbei, ohne ihn haben wir die Rechnung dieses Lebens ohne den Wirt gemacht.

Es ist nicht bedrückend und schwer, sondern entlastend und erhebend, sich unter die Wahrheit Gottes und Jesu zu beugen. Es entlastet uns davon, selbst die Konstrukteure, die Vollstrecker, die Verteidiger der Wahrheit sein zu müssen. Es entlastet uns davon, unsere subjektive Wahrheit unbedingt durchsetzen zu müssen, und macht uns ruhig in dem Wissen, dass die Wahrheit Gottes, die wirkliche, umfassende, verbindliche, allgemein gültige Wahrheit, das letzte Wort haben wird.

Und es erhebt uns, weil wir hineingenommen werden in eine unglaublich große, majestätische Wirklichkeit. Die Wirklichkeit, dass ein anderer die Welt erdacht und gemacht hat, dass einer im Regiment sitzt, der mächtig, weise und gut ist, dass wir einen Platz in seinem großen Plan haben und einnehmen können, und dass er alles zu einem großen Happy End führen wird.

Wir sollten also durchaus leidenschaftlich für die Wahrheit eintreten. Aber vielleicht wäre es richtiger, zu sagen: Wir sollen leidenschaftlich von der Wahrheit ergriffen sein. Das Bewusstsein, dass die Wahrheit größer und stärker ist als wir selber, verleiht die nötige Gelassenheit und Zuversicht, ohne die Eifer für die Wahrheit tatsächlich gefährlich werden kann. Dieser Gefahr gilt es zu widerstehen, speziell von Christen. Jesus hat die Durchsetzung der Ziele Gottes nicht selbst in die Hand genommen. Er hätte für seine Verteidigung eine Armee von Engeln auf den Plan rufen können. Aber er hat stattdessen sein Leben und Geschick in die Hände des himmlischen Vaters gelegt und von ihm erwartet, dass er alles zum guten Ende bringt. Seien wir auch in dieser Hinsicht Jünger Jesu.

Gedanken haben Folgen. Überzeugungen von dem, was wahr ist, haben weitestreichende Folgen. Es kommt entscheidend darauf an, seine Überzeugung an das zu heften, was wirklich wahr ist. Starke Überzeugung ist wenig nutze, wenn ich vom Falschen überzeugt bin – im Gegenteil, sie kann unendlichen Schaden anrichten. Beugen wir uns unter die Wahrheit, die Jesus verkörpert und die er uns offenbart. Dann haben unsere Gedanken gute Folgen, und dann werden wir bleiben, weil wir in der Wahrheit leben (vgl. 3Joh 1,4).

© Kurt Igler, 2008

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Ein Reich im Zwiespalt mit sich selbst? Österreichs Christen und Conchita Wurst

Eingehakt

Gemeinsamer Ethikunterricht löst die Probleme nicht